Kunst und Alterthum.

Das erste und letzte was vom Genie gefordert wird ist Wahrheitsliebe.


Ueber Kunst und Alterthum.
Sechsten Bandes erstes Heft.
Stuttgart, in der Cotta’schen Buchhandlung.
1827.

Wer gegen sich selbst und andere wahr ist und bleibt besitzt die schönste Eigenschaft der größten Talente.


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Helena

Zwischenspiel zu Faust.


Fausts Charakter, auf der Höhe wohin die neue Ausbildung aus dem alten rohen Volks­mährchen denselben hervorgehoben hat, stellt einen Mann dar, welcher in den allgemeinen Erdeschranken sich ungeduldig und unbehaglich fühlend, den Besitz des höchsten Wissens, den Genuß der schönsten Güter für unzulänglich achtet seine Sehnsucht auch nur im mindesten zu befriedigen, einen Geist welcher deßhalb nach allen Seiten hin sich wendend immer unglücklicher zurückkehrt.

Diese Gesinnung ist dem modernen Wesen so analog daß mehrere gute Köpfe die Lö­sung einer solchen Aufgabe zu unternehmen sich gedrungen fühlten. Die Art wie ich mich 201dabey benommen, hat sich Beyfall erworben; vorzügliche Männer haben darüber gedacht und meinen Text commentirt, welches ich dankbar anerkannte. Darüber aber mußte ich mich wundern, daß diejenigen welche eine Fortse­tzung und Ergänzung meines Fragments un­ternahmen, nicht auf den so nahe liegenden Gedanken gekommen sind, es müsse die Bear­beitung eines zweyten Theils sich nothwendig aus der bisherigen kümmerlichen Sphäre ganz erheben und einen solchen Mann in höheren Regionen, durch würdigere Verhältnisse durch­führen.

Wie ich nun von meiner Seite dieses an­gegriffen, lag im Stillen vor mir, von Zeit zu Zeit mich zu einiger Fortarbeit anregend; wobey ich mein Geheimniß vor allen und je­den sorgfältig verwahrte, immer in Hoffnung das Werk einem gewünschten Abschluß entge­genzuführen. Jetzo aber darf ich nicht zurück­halten und bey Herausgabe meiner sämmtlichen Bestrebungen kein Geheimniß mehr vor dem 202Publicum verbergen, vielmehr fühle ich mich verpflichtet, alles mein Bemühen, wenn auch fragmentarisch, nach und nach vorzulegen.

Deßhalb entschließ’ ich mich zuvörderst, oben benanntes, in den zweyten Theil des Fausts einzupassendes, in sich abgeschlossenes kleine­res Drama sogleich bey der ersten Sendung mitzutheilen.

Noch ist die große Kluft zwischen dem bekannten jammervollen Abschluß des ersten Theils und dem Eintritt einer griechischen Heldenfrau nicht überbrückt; man genehmige jedoch vorläufig Nachstehendes mit Freundlich­keit.

Die alte Legende sagt nämlich, und das Puppenspiel verfehlt nicht die Scene vorzu­führen: daß Faust in seinem herrischen Ueber­muth durch Mephistopheles den Besitz der schö­nen Helena von Griechenland verlangt und die­ser ihm nach einigem Widerstreben willfahrt habe. Ein solches bedeutendes Motiv in un­serer Ausführung nicht zu versäumen war uns 203Pflicht, und wie wir uns derselben zu entle­digen gesucht wird aus dem Zwischenspiel her­vorgehen. Was aber zu einer solchen Behand­lung die nähere Veranlassung gegeben und wie, nach mannigfaltigen Hindernissen, den bekann­ten magischen Gesellen geglückt, die eigent­liche Helena persönlich aus dem Orcus in’s Leben heraufzuführen, bleibe vor der Hand noch unausgesprochen. Gegenwärtig ist genug, wenn man zugiebt, daß die wahre Helena auf antik-tragischem Cothurn vor ihrer Urwoh­nung zu Sparta auftreten könne. Sodann aber bittet man die Art und Weise zu beob­achten, wie Faust es unternehmen dürfe, sich um die Gunst der weltberühmten königlichen Schönheit zu bewerben.