143

Mittwoch den 20. April 1825.

[ Gräf Nr. 1318: Goethe zeigte mir diesen Abend einen Brief eines jungen Studirenden, der ihn um den Plan zum zweiten Theil des „Faust“ bittet, indem er den Vorsatz habe, dieses Werk seiner 144seits zu vollenden. ] Trocken, gutmüthig und aufrichtig, geht er mit seinen Wünschen und Absichten frei heraus und äußert zuletzt ganz unverhohlen, daß es zwar mit allen übrigen neuesten literarischen Bestrebungen nichts sei, daß aber in ihm eine neue Literatur frisch erblühen solle.

Wenn ich im Leben auf einen jungen Menschen stieße, der Napoleon’s Welteroberungen fortzusetzen sich rüstete, oder auf einen jungen Bau-Dilettanten, der den Kölner Dom zu vollenden sich anschickte, so würde ich mich über diese nicht mehr verwundern und sie nicht verrückter und lächerlicher finden als eben diesen jungen Liebhaber der Poesie, der Wahn genug besitzt, aus bloßer Neigung den zweiten Theil des „Faust“ machen zu können.

Ja ich halte es für möglicher, den Kölner Dom auszubauen, als in Goethe’s Sinne den „Faust“ fortzusetzen! Denn jenem ließe sich doch allenfalls mathematisch beikommen, er steht uns doch sinnlich vor Augen und läßt sich mit Händen greifen. Mit welchen Schnüren und Maßen aber wollte man zu einem unsichtbaren geistigen Werke reichen, das durchaus auf dem Subject beruht, bei welchem alles auf das Apercu ankommt, das zum Material ein großes selbstdurchlebtes Leben und zur Ausführung eine jahrelang geübte, zur Meisterschaft gesteigerte Technik erfordert?

Wer ein solches Unternehmen für leicht, ja nur für möglich hält, hat sicher nur ein sehr geringes Talent, eben weil er keine Ahnung vom Hohen und Schwierigen besitzt; und es ließe sich sehr wohl behaupten, daß, wenn Goethe seinen „Faust“ bis auf eine Lücke von wenigen Versen selbst vollenden wollte, ein solcher Jüngling nicht fähig sein würde, nur diese wenigen Verse schicklich hineinzubringen.

Ich will nicht untersuchen, woher unserer jetzigen Jugend die Einbildung gekommen, daß sie dasjenige als etwas Angeborenes bereits mit sich bringe, was man bisher nur auf dem Wege vieljähriger Studien und Erfahrungen erlangen konnte, aber so viel glaube ich sagen zu können, daß die in Deutschland jetzt so häufig vorkommenden Aeußerungen eines alle Stufen allmählicher Entwickelung keck überschreitenden Sinnes zu künftigen Meisterwerken wenige Hoffnung machen.

145

„Das Unglück ist“, sagte Goethe, „im Staat, daß niemand leben und genießen, sondern jeder regieren, und in der Kunst, daß niemand sich des Hervorgebrachten freuen, sondern jeder seinerseits selbst wieder produciren will.

„Auch denkt niemand daran, sich von einem Werk der Poesie auf seinem eigenen Wege fördern zu lassen, sondern jeder will sogleich wieder dasselbige machen.

„Es ist ferner kein Ernst da, der ins Ganze geht, kein Sinn, dem Ganzen etwas zu Liebe zu thun, sondern man trachtet nur, wie man sein eigenes Selbst bemerklich mache und es vor der Welt zu möglichster Evidenz bringe. Dieses falsche Bestreben zeigt sich überall, und man thut es den neuesten Virtuosen nach, die nicht sowol solche Stücke zu ihrem Vortrage wählen, woran die Zuhörer reinen musikalischen Genuß haben, als vielmehr solche, worin der Spielende seine erlangte Fertigkeit könne bewundern lassen. Ueberall ist es das Individuum, das sich herrlich zeigen will, und nirgends trifft man auf ein redliches Streben, das dem Ganzen und der Sache zu Liebe sein eigenes Selbst zurücksetzte.

„Hierzu kommt sodann, daß die Menschen in ein pfuscherhaftes Produciren hineinkommen, ohne es selbst zu wissen. Die Kinder machen schon Verse und gehen so fort und meinen als Jünglinge, sie könnten was, bis sie zuletzt als Männer zur Einsicht des Vortrefflichen gelangen, was da ist, und über die Jahre erschrecken, die sie in einer falschen höchst unzulänglichen Bestrebung verloren haben.

„Ja, viele kommen zur Erkenntniß des Vollendeten und ihrer eigenen Unzulänglichkeit nie und produciren Halbheiten bis an ihr Ende.

„Gewiß ist es, daß wenn jeder früh genug zum Bewußtsein zu bringen wäre, wie die Welt von dem Vortrefflichsten so voll ist, und was dazu gehört, diesen Werken etwas Gleiches an die Seite zu setzen, daß sodann von jetzigen hundert dichtenden Jünglingen kaum ein einziger Beharren und Talent und Muth genug in sich fühlen würde, zu Erreichung einer ähnlichen Meisterschaft ruhig fortzugehen.