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1325.

1831, 5. Januar.

Mit Friedrich von Müller

Ich war von 6 bis 8 Uhr Abends bei ihm. Er genehmigte völlig den letzten Testamentsentwurf und 2 zeigte sich sehr dankbar dafür, daß ich ihm diese große Sorge von der Brust nahm. Wir sprachen dann von Sternberg's schöner Beschreibung seiner Fahrt nach Helgoland. Walter Scott's Briefe über Geistererscheinungen und Hexerei hatte Goethe eben gelesen und lobte sie sehr; auch berührte er Niebuhr's gehaltvollen Brief bei Übersendung des zweiten Theils seiner Römischen Geschichte, in deren Vorrede ein Zeitalter der Barbarei als Folge der französischen Revolutionen geweissagt wird. »Der Wahnsinn des französischen Hofes,« äußerte Goethe, »hat den Talisman zerbrochen, der den Dämon der Revolutionen gefesselt hielt.«

»Die Phantasie wird durch Niebuhr's Werk zerstört,« sagte Goethe; »aber die klare Einsicht gewinnt ungemein.«

Darauf sprach er von dem merkwürdigen Condolenzbrief des Kaufmanns Massow in Calbe an Goethe und dessen Dankbrief an Vogel.

Goethe meinte: es müsse doch ein innerlicher, empfindungswarmer Mensch sein.

»Ja, ja, es leben doch hier und da noch gute Menschen, die durch meine Schriften erbaut worden. Wer sie und mein Wesen überhaupt verstehen gelernt, wird doch bekennen müssen, daß er eine gewisse innere Freiheit gewonnen.

Die Abende in Calbe mögen manchmal lang sein; da freut sich denn so einer, wenn er eine Ahnung bekommt, was eigentlich im Menschen steckt. Aber was 3 hilft es ihm wohl? Zum rechten Durchdringen kommt es doch nicht leicht. Ach es ist unsäglich, wie sich die armen Menschen auf der Erde abquälen!«

Es schien ihm Bedürfniß diesen Abend recht viel, was mir interessant sein möchte, mitzutheilen. »Man sollte das öfter thun«, sagte er; »oft kann man damit einem Freunde Freude machen und mancher gute Gedanke keimt dabei auf. Nun, [ Gräf Nr. 1878: wenn ich nur erst meine Testamentssorge vom Herzen habe, dann wollen wir wieder frisch auftreten. Zehn neue Bände meiner Schriften sind fast schon parat. Vom zweiten Theil des ›Faust‹ der fünfte Act und der zweite fast ganz; der vierte muß noch gemacht werden, doch im Nothfall könnte man ihn sich selbst construiren, da der Schlußpunkt im fünften Act gegeben ist.« ]

Ich fand Goethen diesen Abend ganz besonders liebenswürdig und mild, und ich jammerte fast wegeilen zu müssen, um Devrient noch in der ›Aussteuer‹ [von Iffland] zu sehen.