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56.

Pempelfort den 12ten April 1791.

Krankheit ist Schuld, daß ich deinen Brief nicht auf der Stelle beantwortet habe. Ich bin noch immer derselbe Krüppel und das Alter hat mich nicht verjüngt wie die Ärzte mir verhießen, doch leide ich im Ganzen weniger als ehemals und lebe vergnügter als irgend einer von den Menschen die ich kenne, doch fängt die Weisheit an mir etwas mehr als ich wünschte Meister zu werden. Lieber Göthe, wie so herzlich gern sähe und spräche ich dich einmahl wieder. Deine Briefe gleichen dem Anklopfen, dem Vorüberrauschen eines Gespenstes. Aber ich hange auch an dieser Erscheinung. Deinen Tasso habe ich gelesen, vorgelesen, wieder gelesen u. s. w. Die Prinzeßinn verstehe ich, als wenn ich sie gemacht hätte; auch beynah so den Tasso. Etwas zu sehr hat er mich an Roußeau erinnert, der mir widerlich ist. Den Antonio sehe ich für eine Art von Cate 128gorie an, für die wirklich pracktische Kraft im Durchschnitte, und so ist er meisterhaft schematisiert, als Individuum kann ich mir ihn nicht denken. So etwas hat für mich auch die Gräfin Sanvitale an sich. Das hat mich gestört. Übrigens bist du mir als Mann von Gefühl und als speculativer Kopf in keinem deiner Werke größer erschienen als in diesem Tasso. [ Pniower Nr. 79: Von Faust kannte ich beynah schon alles, und eben deswegen hat er doppelt und dreyfach auf mich gewirkt. Wie ich vor 16 Jahren fühlte, und wie ich jetzt fühle, das wurde Eins. Und was alles dazu kam, magst du dir vorstellen, wenn du kannst und willst. ]

Ich habe mir die botanischen Lehrbücher des Linnäus angeschaft, um deine Schrift über die Metamorphose der Pflanzen lesen zu können; aber es fehlt mir ein Beystand um mich das A. B. C. und das Buchstabieren zu lehren. Ich will nun mit Gewalt Rath dazu schaffen. Wie es mit den Arbeiten, „wo die Bemühung inwärts geht und Simplification der Zweck ist“ nicht räumt; darüber kann ich selbst ziemlich Bescheid ertheilen.

Da du Schauspieldirector bist, so laß dich fragen ob du etwas von der Catastrophe eines alten Stücks weist, worin Vernunft und Sprache die Menächmen spielen. Oder hat es vielleicht keine Catastrophe, und spielt nur so fort.

Du fragst was mich beschäftigt? Ein Ende zu suchen, irgend wo, an irgend was, das nur lang genug wäre, um es zu faßen und halten zu können. Je länger ich lebe und je mehr ich lerne, desto weniger kann ich aus Himmel und Erde klug werden. Die französische Revolution hat mir eine Zeitlang viel zu schaffen gemacht; ich habe auch bey dieser Gelegenheit einiges für mich geschrieben, das vielleicht noch gedruckt wird.

Wo bleibt dein Wilhelm Meister?

Von deinem Portrait nehme ich sechs Exemplare. Grüße Lips von mir. Die Bezahlung verfüge ich in der Leipziger Meße zugleich mit dem neuen Beytrag für die Kuxen. Der Prinzeßin schicke ich die Nachricht übermorgen; ich vergaß es vorige Woche.

Mein Freund N. wünscht deine Büste zu haben.

J.